Die Präsidentschaftswahlen 2022 in Brasilien finden in einem stark polarisierten Umfeld statt. Der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro liegt dabei in den Umfragen weit hinter seinem linken Wettbewerber, dem Ex-Präsidenten Luis Inacio Lula da Silva. Beide Kandidaten stehen für eine unterschiedliche Sicht auf die Zukunft – und bedienen sich doch beide Ideen aus der Vergangenheit.

Ein Beitrag von Lars Feyen

 

Es ist ein außergewöhnliches Stück Geschichte, welches am 22. August pünktlich vor dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Brasiliens seinen Weg zurück in das Land fand. Das Herz des letzten brasilianischen Kaisers, Dom Pedro des Zweiten, wird eigentlich seit über einem Jahrhundert im europäischen Porto, der Geburtsstadt Dom Pedros, aufbewahrt. Für das runde Jubiläum wurde es nun auf eine Art Tournee durch Brasilien geschickt.

Dass dieses Artefakt nun durch das größte Land Südamerikas reisen sollte, hat nicht nur mit dem Jahrestag der Unabhängigkeit zu tun. Denn diese Reise ist ebenfalls nur wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl Anfang Oktober zu verorten. Die Präsentation von Dom Pedros Herz scheint einer von zahlreichen Versuchen des um den Machterhalt kämpfenden Präsidenten Jair Bolsonaro zu sein, den Blick der Wählerinnen und Wähler auf vermeintlich bessere Zeiten in der entfernten Vergangenheit zu lenken.

Gründe zur Ablenkung gibt es genug. Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro Anfang 2019 haben sich die sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen des Landes spürbar verschärft. Bolsonaros laissez faire Reformen der Waffengesetze haben die Gewalt in den Favelas und Großstädten eskalieren lassen. Dank der umstrittenen Krisenpolitik während der Corona-Pandemie sind hunderttausende Menschen in Brasilien verstorben. Dass die Zahl nicht noch höher ist, hat vor allem mit dem beherzten Eingreifen der Bundesstaaten zu tun, deren Gouverneurinnen und Gouverneure eigene Regeln zum Schutze der Bevölkerung aufgestellt haben. Die Brandrodungen im Amazonasgebiet, die seit Amtsantritt Bolsonaros ebenso wie die Verdrängung indigener Völker ungeahnte Ausmaße annahmen, waren 2019 bis in südlichen Metropolen wie São Paulo zu sehen, obwohl die Stadt etwa zweitausend Kilometer vom Amazonas entfernt liegt.

 

Die innenpolitische Sicht

Auch die politischen Auseinandersetzungen sind in den vergangenen vier Jahren immer wieder eskaliert. Bolsonaro, der als selbsternannter Bekämpfer der Korruption der linken Vorgängerregierungen angetreten war, toleriert die persönliche Bereicherung seiner eigenen hochrangigen Regierungsbeamten und auch seiner Familienmitglieder. Der Präsident selbst verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, die vermeintliche Ungerechtigkeit der medialen Berichterstattung über seine Politik zu lamentieren und die weiterhin funktionstüchtigen Verfassungsorgane der Republik zu unterminieren. So bezeichnete er einen Richter des Obersten Gerichtshof Brasiliens und des Obersten Wahlgerichtshofs als „Drecksack“ und kündigte an, ihre individuellen Urteile nicht mehr anzuerkennen. Seine unverhohlene Bewunderung für die Militärdiktatur und seine durch die evangelikale Bewegung geprägte Politik waren von Beginn an Teil seiner politischen Ideologie.

Bolsonaro ist allerdings nicht der einzige Kandidat bei dieser Wahl, der den Blick der Wahlbevölkerung vor allem auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit lenken möchte. Auch Expräsident Luis Inácio Lula da Silva, Staatsoberhaupt von 2003 bis 2010, blickt gerne auf seine damaligen Errungenschaften zurück und verspricht den Brasilianerinnen und Brasilianern, dass seine Erfolge bei seiner Wiederwahl ebenfalls wieder zurückkehren könnten. Dabei ignoriert der inzwischen 76-Jährige, dass der Rohstoffboom, der einen Großteil der von ihm aufgelegten Sozialprogramme querfinanzierte, inzwischen verpufft ist.

Lula ist ebenso wie Bolsonaro eine umstrittene Figur in der brasilianischen Gesellschaft. Er persönlich oder von ihm direkt auserkorene Schützlinge haben an allen Präsidentschaftswahlen seit 1989 teilgenommen, er oder seine Zöglinge haben es seitdem  jedes Mal in die Stichwahl geschafft. Am Ende seiner zweiten Amtszeit vor zwölf Jahren hatte Lula noch Zustimmungswerte von etwa 90 Prozent. Dieser Tage sind Zustimmung und Ablehnung jedoch deutlich ausgeglichener. Vor allem der Korruptionsskandale Lava Jato, die Lula nach umstrittenen Ermittlungen für einige Zeit ins Gefängnis brachten, haben die Ablehnung gegenüber dem linken Expräsidenten im konservativen Lager und darüber hinaus noch verstärkt.

Dennoch liegt Lula, der sich derzeit bewusst als versöhnende Figur aus der demokratischen Mitte präsentiert, wenige Wochen vor dem ersten Urnengang etwa zehn Prozentpunkte und damit fast uneinholbar vor Amtsinhaber Bolsonaro. Die Chance, dass es noch nicht einmal zu einer Stichwahl kommen könnte, ist weiterhin gegeben. Um die weit verbreitete Ablehnung Lulas und seiner Arbeiterpartei (PT) im bürgerlichen Spektrum abzuschwächen, setzt die Kampagne des Expräsidenten auf Mäßigung der eigenen Rhetorik. Auch wurde mit seinem Vizepräsidentschaftskandidaten, Geraldo Alckmin, ein bekannter konservativer Politiker ins Boot geholt, der Lula ansprechender oder zumindest weniger bedenklich erscheinen lassen soll.

Und so stehen sich in wenigen Wochen zwei Versionen Brasiliens gegenüber, die beide rückwärtsgewandt agieren und dennoch unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

Die außenpolitische Sicht

Aus europäischer Perspektive würden sowohl eine zweite Amtszeit Bolsonaros als auch eine Rückkehr Lulas gewisse Herausforderungen mit sich bringen. Der Amtsinhaber und viele seiner Verbündeten haben mehrfach betont, dass der Amazonas Brasilien allein gehöre und man nicht auf Klimaschutzbedenken des Auslandes hören wolle. Bolsonaro hatte zudem zu Beginn des Jahres bei einem Staatsbesuch in Moskau erklärt, das brasilianische Volk stünde hinter den Plänen Wladimir Putins. Seine Vorliebe für autoritäre Figuren wie den amerikanischen Expräsidenten Donald Trump oder Viktor Orban zeigt er offen, seine Ambivalenz gegenüber wirtschaftlicher Integration mit den direkten Nachbarländern ebenfalls. 

Lula und die weitere politische Linke Brasiliens wiederum haben in der Vergangenheit vor allem eine engere Kooperation des „globalen Südens“ gefordert. In ihrer Auffassung könnte dies vor allem auch eine wirtschaftliche Annäherung an China bedeuten, welches einer von Brasiliens wichtigsten Wirtschaftspartnern ist. Wie viele andere Länder in Lateinamerika und Afrika wäre Brasilien unter Lula kaum geneigt, Russland für seinen Überfall auf die Ukraine zu kritisieren. Jahre der erfolgreichen Kooperation im Rahmen der BRICS-Gruppe dürften dazu beigetragen haben.

Ob die Wirtschaftskooperation zwischen der EU und dem südamerikanischen MERCOSUL, zu dem auch Brasilien gehört, wieder an Fahrt gewinnen würden, ist derzeit nicht absehbar.

Als das Herz Dom Pedros am 10. September nach nur 20 Tagen in Brasilien die Heimreise nach Portugal antrat, war die heiße Phase des Wahlkampfes noch nicht erreicht. Bewaffnete Auseinandersetzungen wie die Ermordung eines Anhängers von Lula durch einen Bolsonaro-Fan bestimmen derzeit den öffentlichen Diskurs in dem südamerikanischen Land. Neben der gegenwärtigen Gewalt treibt viele Brasilianerinnen und Brasilianer die Frage um, ob Jair Bolsonaro seine wahrscheinlicher werdende Niederlage eingestehen würde oder ob er – ganz nach dem Vorbild seines Idols Donald Trump – den Unmut im rechten Lager nutzen würde, um einen Staatsstreich zu versuchen. Brasilien stehen turbulente Wochen und Monate bevor.

 

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Bildquelle via unsplash

 

Lars hat Internationale Beziehungen, Romanistik und East Asian Studies in Erfurt und Groningen studiert. Er arbeitet derzeit beim Podcast-Radio detektor.fm in Leipzig. Er ist im Polis-Programm connectingAsia aktiv.

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