Ein Beitrag von Frauke Seebass

Europäische Identität, Europäisierung, Zukunft Europas: Scheinbar inklusive Konzepte, die aber oft der Abgrenzung dienen. Nirgends wird dies deutlicher als in den Ländern des „Westbalkans“, die trotz ihrer geografischen Nähe weiterhin als das „Andere“ dienen, demgegenüber sich Europa definiert.

 

Erweiterung zwischen geostrategischen und innenpolitischen Interessen

In den Dokumenten zur EU-Erweiterung wird immer wieder betont, dass die EU „die europäische Perspektive der westlichen Balkanstaaten eindeutig unterstützt„. Doch ironischerweise werden diese wichtigen zukünftigen Mitglieder nicht eingeladen, wenn eine Konferenz über die Zukunft Europas ausgerichtet wird. Dies ist pathologisch für die Art und Weise, wie die EU mit der Region umgeht, nämlich mit einer paternalistischen Perspektive statt mit einer gleichberechtigten Partnerschaft. Während die EU unbestreitbar ihre eigenen internen Probleme zu bewältigen hat, läuft der Ausschluss der künftigen Mitgliedstaaten dem erklärten Ziel zuwider, den Zusammenhalt zu stärken und lässt die Tatsache außer Acht, dass viele dieser Herausforderungen beide Regionen gleichsam betreffen.

Nehmen wir zum Beispiel die Rolle von Drittstaaten. Russische Desinformation, Chinas aggressive Handelspolitik und das Erstarken der Rechtsextremen in den USA stellen sowohl die EU als auch den Westbalkan vor Herausforderungen und drohen, neue Konflikte zu entfachen. Gleichzeitig sind demokratische Rückschritte und Defizite in der Rechtsstaatlichkeit nicht nur in Südosteuropa zu beobachten. Dennoch sind sie es, die durch diese Anfechtungen zum „geopolitischen Schachbrett“ werden, da ihr Status nach wie vor in der Schwebe ist und die EU, obwohl sie sich schwer tut, ihre „geostrategische Bedeutung“ anzuerkennen, sie in strategischen Fragen weiterhin an den Rand drängt.

Offensichtlich beruhen diese politischen Entscheidungen nicht auf einer neutralen Bewertung der lokalen Situation, sondern auf innenpolitischen Erwägungen. Ein exemplarischer Fall ist Frankreich, wo die Regierung zwar ausgesprochen pro-europäisch ist, die öffentliche Meinung der EU-Erweiterung jedoch sehr skeptisch gegenübersteht und die extreme Rechte das Thema nutzt, um ihre einwanderungsfeindliche Agenda aktiv voranzutreiben. Ebenso ist Spaniens vehemente und manchmal geradezu lächerliche Weigerung, die nationale Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen, tief in seiner internen Kontroverse über die Autonomie Kataloniens verwurzelt. Gleichzeitig eröffnet diese Zweideutigkeit Räume für unheilige Allianzen undemokratischer Kräfte in ganz Europa, denen die pro-demokratischen Parteien auf beiden Seiten folglich kaum etwas entgegensetzen können.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Westbalkanländer angesichts internationaler Krisen zugunsten eine Konzentration auf innenpolitische Themen für die EU zunehmend in den Hintergrund gerückt ist und die Mitgliedsstaaten daran hindert, sich sinnvoll mit ihnen auseinanderzusetzen und ihre selbst gesetzte Erweiterungsagenda voranzutreiben. Dabei sind die Anreize einer Mitgliedschaft ein wichtiger Ansporn für Transformationsprozesse, die durch Skepsis und Zögerlichkeit gefährdet werden. Die Region bleibt außen vor und ist doch wesentlicher Teil Europas. Doch wie lässt sich diese scheinbar widersprüchliche Darstellung erklären?

Imagining the Western Balkans

Offenkundig behalten die EU und vor allem die Gründungsmitglieder die Deutungshoheit darüber, was oder wer europäisch ist, und die Beitrittskandidaten werden in einem Grenzzustand belassen, bis sie die Merkmale ablegen, die sie von Europa abgrenzen und sie zum „Balkan“ machen. Die bulgarische Historikerin Maria Todorova hat dies vielleicht am besten beschrieben:

“Geographically inextricable from Europe, yet culturally constructed as „the other,“ the Balkans became, in time, the object of a number of externalized political, ideological and cultural frustrations and have served as a repository of negative characteristics against which a positive and self-congratulatory image of the „European“ and „the west“ has been constructed.”

Für diesen Mechanismus der Fremdbestimmung einer imaginierten und nur vage definierten geografischen Einheit, der auf Vorurteilen und Verallgemeinerungen beruht, hat sie den Begriff „Balkanismus“ geprägt, der sich an Edward Saids Konzept des Orientalismus anlehnt, sich aber von diesem unterscheidet. Denn während der „Orient“ immer ein ferner, exotischer Ort war, ist der Balkan unbestreitbar Teil des europäischen Kontinents und seine Bewohner stehen den anderen Völkern, die ihn bevölkern, in ihren Kulturen, Sprachen und religiösen Überzeugungen trotz der langen osmanischen Herrschaft viel näher, und der europäische Imperialismus hat tiefe Spuren und Verbindungen hinterlassen.

Und doch bleibt der „Balkan“ in seiner eigenständigen Erzählung außerhalb Europas. Der Begriff ist mit der Konnotation eines gewalttätigen „Anderen“ behaftet, der von interethnischem Hass getrieben wird. Solche reduktionistischen und homogenisierten Stereotypen beruhen auf Vorurteilen der Rückständigkeit, die bereits unter der Habsburger Herrschaft vorherrschten und sich im Zusammenhang mit den Balkankriegen sowie der Rolle, die die Region im Ersten Weltkrieg spielte, verfestigten. Mit dem Zerfall Jugoslawiens schienen diese Vorurteile bestätigt und beeinflussen ausländische Interventionen bis heute. Diese Entkopplung der Terminologie von ihrem Gegenstand hat reale und weitreichende Folgen. Der Mangel an Erfahrung, internem Zusammenhalt und potenten Mitteln führte zudem dazu, dass die EU während der Kriege selbst eine untergeordnete Rolle spielte, während sie bei den anschließenden politischen Wiederaufbauprozessen insbesondere in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo übergeordnete Aufgaben übernahm. 

Indem der liberale Interventionismus jedoch äußere Bedingungen schuf, die einen Wandel von innen heraus verhinderten, behinderte er eine sinnvolle Transformation zugunsten von „Stabilitokratien“ und ermöglichte es den nationalen Machthabern, ausländische Akteure als Sündenböcke für die Ausübung ihrer Macht zu instrumentalisieren. Darüber hinaus werden die Auswirkungen ausländischer Interventionen nicht angemessen bewertet und es fehlt an Rechenschaftspflicht. Diese unzureichende Reflexion beeinträchtigt auch den internen Zusammenhalt der EU, indem sie Reibungen in ihrem normativen außenpolitischen Ansatz offenlegt und ihre Legitimität als externer Akteur schwächt.

Europäische Identität in the Making

Neben der Vorherrschaft verzerrter Bilder und innenpolitischer Konflikte ist ein weiterer Faktor, der eng mit der Entstehung der politischen Beziehungen zwischen der EU und der Region zusammenhängt, die interne politische Entwicklung des Blocks als außenpolitischer Akteur und die daraus resultierenden Aushandlungsprozesse der europäischen Identität in der globalen Arena. Als der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens begann, war die EU noch deutlich kleiner und weniger integriert als heute. Es war kein Zufall, dass die Konflikte mit der Schaffung der Grundlagen für die Ambitionen der EU im Bereich der äußeren Sicherheit in Verbindung mit einem vertieften Zusammenhalt zusammenfielen. Da die EU nicht in der Lage war, sinnvoll in Jugoslawien zu intervenieren, einigte man sich auf mehr Mittel für ein koordiniertes Vorgehen, die im 1993 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union (VEU) verankert wurden. 

Nachdem die EU wenig Einfluss auf den Krieg nehmen konnte, leitete sie 1999 den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP) ein, der den Rahmen für die Außenbeziehungen der EU mit den Ländern des ehemaligen Jugoslawien und Albanien bildete. Nach der bisher größten Erweiterung der EU im Jahr 2004 wurde in der Erklärung des Gipfels von Thessaloniki im Jahr 2003 erneut eine Beitrittsperspektive für alle SAP-Länder bekräftigt. Die erklärten Ziele waren Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung. Aufgrund ihres multilateralen Charakters, bei dem die nationalen Regierungen die Entscheidungsträger bleiben, ist die EU-Außenpolitik jedoch eher nach innen gerichtet. Daher versuchte der Block bei der Entwicklung seines außenpolitischen Konzepts gleichzeitig, seine eigene Identität zu finden, was zu einer Politik führte, die sich mehr mit internen als mit externen Fragen befasste. Bei der Gestaltung der Außenpolitik ist es von entscheidender Bedeutung, zu definieren, was außen ist und wo die Grenze zwischen Europa und dem „Anderen“ verläuft. 

In Artikel 49 VEU heißt es: „Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden“. Auch hier handelt es sich um eine Formulierung, die auf Inklusivität abzielt, aber faktisch den EU-Mitgliedstaaten das ausschließliche Definitionsrecht zugesteht. Folglich wurde der Antrag Marokkos abgelehnt, während jener der Türkei mit der Begründung angenommen wurde, dass die Entscheidung nicht allein auf geografischen Gründen beruhe. In ähnlicher Weise wurde ein „europäischer Weg“ für die oben genannten Länder vorgezeichnet, die sich in der Folge demgemäß plötzlich außerhalb Europas wiederfanden.

Hegemoniale Diskurse und das Vorrecht der EU, zu bestimmen, wer „europäisch“ ist, sind in den Beziehungen zu den SAP-Ländern, die seither „Westbalkan“ getauft wurden, offensichtlich vorherrschend. Der Begriff wurde auf einer Ratstagung in Wien im Jahr 1998 für die südosteuropäischen Länder eingeführt, die nach der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien außerhalb der EU bleiben. Hinter dieser scheinbar neutralen Bezeichnung verbirgt sich dieselbe semiotische Dissonanz, die Todorova als „Balkanismus“ bezeichnet, und es wird eine Machtdichotomie zwischen „Europa“ und dem „Westbalkan“ aufrechterhalten, in der Erstere die Terminologie definiert und die Tagesordnung festlegt und die Selbstbestimmung des Letzteren verhindert. Dementsprechend verlieren die Länder diese Zuschreibung, sobald sie Mitglied werden, wodurch die Botschaft vermittelt wird, dass man nur dann wirklich europäisch sein kann, wenn man Teil der EU ist.

Dass der Begriff „Balkan“ auch in den so bezeichneten Ländern im Gegensatz zu „europäisch“ verstanden wird, zeigte eine Umfrage aus dem Jahr 2011, die auch aufzeigte, wie orientalistische Bilder die Wahrnehmung des Andersseins verstärkten. Kulturelle und politische Merkmale bestimmten das Ausmaß, in dem ein Land als „balkanisch“ oder „europäisch“ wahrgenommen wurde, was dazu führte, dass mehrheitlich muslimische Länder eher als Teil des Balkans wahrgenommen wurden als christliche Länder, NATO-Mitgliedsländer dagegen weniger. Andere Identitätsmerkmale werden in dieser Darstellung, in der die ethnische Zugehörigkeit als vorherrschend und unveränderlich dargestellt wird, ausgelassen. 

Der „andere“ Balkan oder Europa durch und durch?

Es liegt auf der Hand, dass die EU den „anderen Balkan“ nach wie vor braucht, um den eigene gemeinsamen Deutungsrahmen sowohl im Hinblick auf ihre Identität als auch als außenpolitischer Akteur zu schaffen. Indem die EU die Länder auf Distanz hält und sie unter verschiedenen Nachbarschaftskonzepten, die andere künstliche Regionen einschließen (und damit schaffen), vermeintlich bevorzugt behandelt, hält sie ihren exklusiven Anspruch auf die Region aufrecht, ohne Verantwortung zu übernehmen und die Nähe anzuerkennen.

Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie dieser „Andere“ in ein Gebilde integriert werden kann, das sich so sehr von ihm unterscheidet. Die Antwort scheint in der „Europäisierung“ zu liegen, einem Begriff, der gerne verwendet, aber kaum je definiert wird. Da es sich um ein mehrdimensionales Konzept handelt, ist sein wissenschaftlicher Nutzen höchst umstritten und trägt oft zur Aufrechterhaltung der Stereotypen bei, die Todorova und andere beschreiben. 

Während sich die ursprüngliche Definition auf EU-Mitgliedstaaten bezog, die sich an die Integrationsdynamik anpassen, hat sich die Bedeutung auf Länder verlagert, die sich dem Block anschließen wollen. Von ihnen wird erwartet, dass sie die EU-Normen und -Gesetze auf Regierungsebene umsetzen, während die Zivilgesellschaft gesellschaftlichen Wandel durch Bottom-up-Bemühungen herbeiführt. Die Unschärfe des Begriffs scheint in der Tat zu seiner Attraktivität für die EU-Außenpolitik beizutragen, da sie die Fortführung der vereinfachten Dichotomie von „Europa“ und „Balkan“ ermöglicht.

Durch unreflektierte liberale Statebuilding-Aktivitäten haben westliche Mächte das Paradoxon geschaffen, die nationale Souveränität zu untergraben, um eben diese zu schaffen, und damit den Weg für lokale und internationale Akteure geebnet, die diese Reibungen in ihren Narrativen ausnutzen, um ihre eigene Klientel zu bedienen. Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung machen sich diese „Stabilitätspolitiker“ dann das Bild des „anderen Balkans“ zu eigen, der niemals „europäisiert“ werden kann. Wie der Artikel gezeigt hat, offenbart die Verortung und Dekonstruktion dieser Logik und ihrer Einbettung in einen breiteren Diskurs die Spannungen zwischen nationalen Interessen und normativen Standards der „Europäisierung“, die durch diese Narrative gefördert werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die EU-Außenpolitik gegenüber den Ländern, die unter dem Namen „Westbalkan“ zusammengefasst sind, von tief verwurzelten Vorurteilen sowohl von der Region als auch von der Rolle der EU in dieser Region geleitet wird. Durch die Verwendung einer vagen Terminologie und die Konzentration auf die internen Auswirkungen politischer Entscheidungen fällt es den EU-Mitgliedstaaten zunehmend schwer, sich die sechs (potenziellen) Kandidaten als Teil Europas vorzustellen. Da sie in den meisten EU-Hauptstädten nicht sehr weit oben auf der Tagesordnung stehen, erhalten die einzelnen Länder noch weniger Aufmerksamkeit. Ein genauerer Blick auf die Auswirkungen, die das außenpolitische Erwachsenwerden der EU nach wie vor auf die einzelnen Staaten hat, macht die bisher skizzierten Reibungen und ihre Auswirkungen vor Ort noch greifbarer.

Angesichts aktueller geopolitischer Entwicklungen kommen die EU-Staaten nicht länger umhin, ihre Nachbarschaft enger an die Union zu binden. Mit dem Ausschluss der Länder von der Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance vertan worden: Nur eine ehrliche Partnerschaft und ein Dialog auf Augenhöhe und unter Einbezug verschiedener Akteure aus Regierungen und Zivilgesellschaften kann die Antwort sein. Das Zusammenwachsen und die weitere gemeinsame Entwicklung sind graduelle, dynamische Prozesse ohne festen Endpunkt. Zeit für Europa, im wahrsten Sinne des Wortes über sich hinauszuwachsen!

Dieser Artikel ist im Zuge des Projekts „Proximity and Neighbourhood“ an der Andrássy Universität Budapest in Kooperation mit dem Graduate Institute Geneva und der National and Kapodistrian University of Athens entstanden. Das englische Original ist hier zu finden.

 

Über die Autorin

Frauke Seebass ist Doktorandin an der Andrássy Universität Budapest, wo sie die Entwicklung außenpolitischer Narrative der EU gegenüber dem Kosovo und deren Folgen untersucht. Gleichzeitig leitet sie als Non-Profit-Projektmanagerin für Polis180 das deutsch-georgischen Jugendprojekt #GEONext – Partnerships for Youth Engagement zur sektorübergreifenden Zusammenarbeit für gesellschaftlichen Wandel. Frauke arbeitet seit mehreren Jahren an der EU-Nachbarschaftspolitik gegenüber dem westlichen Balkan und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.

 

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Bildquelle via unsplash

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